200 Jahre Basler Gesangverein

 

Als der Basler Gesangverein (BGV) 1924 sein 100jähriges Jubliäum feierte, brachten die Basler Nachrichten – damals das wichtigste Blatt auf dem Platz Basel – eine Sonderbeilage. Darin wurde der BGV als eine der wichtigsten Institutionen des Kulturlebens der Stadt gewürdigt. Dass die Stadt erstmals seit Jahrhunderten wieder einen guten Klang in der Musikwelt habe, verdanke sie musikalischen Gesellschaften, «vor allem dem Basler Gesangverein mit seinen Münsterkonzerten.» 

Heute, vor dem 200jährigen Jubiläum, ist die Lage anders. Nicht nur ist das kulturelle Leben vielfältiger, auch die Chöre sind viel zahlreicher – der Gesangverein ist einer unter ihnen, kleiner als damals, er ist auch nicht mehr der Chor der städtischen Oberschicht. Geblieben ist das Privileg, regelmässig im Münster Konzerte zu veranstalten und mit dem städtischen Sinfonieorchester aufzutreten. 

Die Geschichte unseres Chors bleibt aber für die Kulturstadt Basel interessant. Deshalb diese Texte, die laufend ergänzt werden. Wer sich für mehr Details interessiert, sei auf die grösseren und kleineren Festschriften verwiesen, die zum 50., zum 75., zum 100., zum 125., 150. und 175. Jubiläum erschienen.

Vereine sind ein bürgerliches Phänomen, auch im künstlerischen Bereich. «Wenn in grössern, namentlich in monarchischen Staaten von der Regierung oder vom Hofe aus für die Pflege der Kunst gesorgt wird, so bleibt diese hingegen in kleineren Staaten und besonders in Republiken gemeiniglich den Bürgern überlassen und kann […] nur durch freiwillige Anstrengungen und Opfer Einzelner erzielt werden», konstatierten die Statuten des BGV von 1847, 33 Jahre nach der Gründung. Entsprechend der politischen und sozialen Struktur des Stadt Basel war der BGV ein Kind des Grossbürgertums. Die Vereinsorganisation blieb über 200 Jahre im Wesentlichen gleich. Ein Vorstand (bis weit ins 20. Jahrhundert Kommission genannt) führte den Chor. Die Dirigenten waren Angestellte, prägten aber die musikalische Entwicklung.

Am Anfang des 19. Jahrhunderts war es mit der Musikpflege in Basel noch nicht weit her. «Nur in den höheren und gebildeten Ständen» habe es so etwas gegeben, hielt die Jubiläumsschrift des BGV von 1874 fest; solche private Musik- und Singkränzchen traten aber nicht öffentlich auf. «Nirgends fand sich ein ständiges Orchester, nirgends geschulte Sängerchöre, welche an das Studium und die Aufführung grösserer Meisterwerke sich hätten wagen dürfen.» Der Gesangsunterricht an den Schulen sei «erbärmlich» gewesen. Als 1820 das Schweizer Musikfest in Basel stattfand, brachte man mit Mühe einen Ad-hoc-Chor zusammen, der sich nachher wieder auflöste. Das Musikfest hatte aber den Wunsch gestärkt nach dem Vorbild deutscher Städte Chöre zu bilden. 

Zwei junge Herren aus gutem Haus, Wilhelm Burckhardt und Abraham Iselin, und der neue Musiklehrer am Gymnasium, Ferdinand Laur, bei dem sie Privatstunden nahmen und welcher der erste Dirigent werden sollte, sowie Oberförster Peter Hagenbach ergriffen 1823 die Initiative zur Gründung des Basler Gesangvereins. Die Stadt Basel zählte damals noch nicht 20’000 Einwohner und war von einer Stadtmauer und Gräben umgeben. Beherrscht wurde sie von einem konservativen Grossbürgertum, das weder eine demokratische Mitsprache der städtischen gewöhnlichen Bürger noch derer auf der Landschaft zuliess; daran änderte auch die Kantonstrennung, welche die revoltierende Landschaft 1833 erzwang, noch jahrzehntelang nichts.

Nach bescheidenen Anfängen und einer Krisenphase zur Zeit der politischen Wirren Anfang der 1830er Jahre begann der Aufstieg des BGV zu einer bedeutenden Institution des Basler Musiklebens. 1840 wurde erstmals ein grosses Werk aufgeführt, ein Oratorium von Händel, 1861 als Schweizer Erstaufführung eine Bach-Passion – die Bach-Aufführungen brachten dem BGV in den folgenden Jahrzehnten einen Ruf weit über die Grenzen der Schweiz hinaus ein. 

Fast gleichzeitig mit dem BGV entstand 1827 auch ein Männerchor. Hier betonten die Initianten den demokratischen Gesichtspunkt: Gesang sei Volkssache, die aristokratischen gemischten Gesangvereine seien «dem wahren innern Wesen des Gesanges nicht nur entgegengesetzt, sondern oft hinderlich». Jedermann solle teilnehmen können, es gehe darum «den Volksgesang recht ins Leben zu rufen und durch gute volkstümliche Lieder die unanständigen Gesänge auf den Strassen und in den Wirtshäusern zu verdrängen». Im Zusammenhang mit dem eidgenössischen Sängerfest von 1852 entstand aus Sängern dieses Männerchors und des BGV die Liedertafel. Männergesangvereine trugen – so Wilhelm Merian in seiner Basler Musikgeschichte – in der Schweiz von Anfang an „neben der ausgesprochen demokratischen eine ausgesprochen patriotische Note«. Gesangverein und Liedertafel kannten fortan viele Doppelmitglieder, die längste Zeit wurden sie auch vom gleichen Dirigenten geleitet, auch sozial stützten sie sich auf dieselben Schichten. Neben Zeiten guter Zusammenarbeit gab es in den folgenden Jahrzehnten dennoch immer wieder auch Misshelligkeiten. Den Grund sah die Kommission des BGV auch im 20. Jahrhundert noch in den unterschiedlichen Wurzeln: «Es herrscht da und dort in der Liedertafel heute noch der alte Irrtum, man werde als Liedertäfler im Gesangverein über die Achsel angesehen», heisst es im Protokoll 1929.

Die Bedeutung des BGV im 19. Jahrhundert ging über die jährlichen drei Aufführungen hinaus. Lange Zeit organisierte er auch Kammermusiksoiréen und Solistenkonzerte. Von der Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts leitete meist derselbe Dirigent sowohl Gesangverein und Liedertafel als auch das Orchester – eine Konstellation, die Kontinuität und Synergien ermöglichte, zumal viele Dirigenten sehr lange amtierten: im 19. Jahrhundert nacheinander die drei Deutschen Ferdinand Laur, Ernst Reiter und Alfred Volkland jeweils mehr als zwanzig Jahre. Im 20. Jahrhundert gab es nur noch Schweizer Dirigenten, nach der Interimszeit von Hans Huber allen voran Hermann Suter, der wieder über zwanzig Jahre prägte. Die darauffolgende 53jährige Amtszeit von Hans Münch zeigte dann allerdings auch die Schattenseiten solcher longue durée. Als er 84jährig 1977 zum Rücktritt gedrängt wurde, waren Zeichen der Erstarrung nicht zu übersehen; ein verärgertes Mitglied sprach in einer Umfrage von einem «verstaubten Greisenchor». Das war trotz aller Probleme übertrieben. Dass der Chor seit den 1970er Jahren schrumpfte, lag vor allem an gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Die Diversifizierung des Freizeitangebots und der Chorlandschaft und damit die Konkurrenz unzähliger Musikveranstaltungen machten das alte Geschäftsmodell zunehmend unpraktikabel. Den Dirigenten Etienne Krähenbühl, Peter Eidenbenz und Adrian Stern gelang es dennoch, den BGV als Qualitätschor zu erhalten. Mit Facundo Agudin wird der BGV nach einem nie dagewesenen zweijährigen Aufführungsunterbruch wegen der Covid-Pandemie die Schwelle zum dritten Jahrhundert überschreiten.